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Geschichte

7 Zitate zu „Geschichte"

„Für mich waren Bäume schon immer die eindringlichsten Prediger. Ich verehre sie, wenn sie in Gruppen und Familien, in Wäldern und Hainen leben. Und noch mehr verehre ich sie, wenn sie allein stehen. Sie gleichen einsamen Menschen. Nicht wie Einsiedler, die sich aus Schwäche zurückgezogen haben, sondern wie große, eigenbrötlerische Männer, wie Beethoven und Nietzsche. In ihren höchsten Zweigen rauscht die Welt, ihre Wurzeln ruhen in der Unendlichkeit; doch sie verlieren sich dort nicht, sie kämpfen mit aller Kraft ihres Lebens nur für eines: sich nach ihren eigenen Gesetzen zu verwirklichen, ihre eigene Form zu gestalten, sich selbst darzustellen. Nichts ist heiliger, nichts ist beispielhafter als ein schöner, starker Baum. Wenn ein Baum gefällt wird und seine nackte Todeswunde der Sonne offenbart, kann man seine ganze Geschichte in der leuchtenden, beschrifteten Scheibe seines Stammes lesen: in den Jahresringen, seinen Narben, sind all der Kampf, all das Leid, all die Krankheit, all das Glück und der Wohlstand wahrhaftig eingeschrieben, die mageren Jahre und die luxuriösen Jahre, die Angriffe Sie haben widerstanden, die Stürme überstanden. Und jeder junge Bauernjunge weiß, dass das härteste und edelste Holz die engsten Jahresringe hat, dass hoch oben in den Bergen, in ständiger Gefahr, die unzerstörbarsten, die stärksten, die idealen Bäume wachsen. Bäume sind Zufluchtsorte. Wer mit ihnen zu sprechen weiß, wer ihnen zuzuhören weiß, kann die Wahrheit erfahren. Sie predigen keine Lehren und Gebote, sie predigen, unbeirrt von Einzelheiten, das uralte Gesetz des Lebens. Ein Baum sagt: Ein Kern ist in mir verborgen, ein Funke, ein Gedanke, ich bin Leben aus ewigem Leben. Der Versuch und das Risiko, das die ewige Mutter mit mir eingegangen ist, ist einzigartig, einzigartig die Form und die Adern meiner Rinde, einzigartig das kleinste Spiel der Blätter an meinen Zweigen und die kleinste Narbe an meiner Rinde. Ich wurde geschaffen, um das Ewige in meinem kleinsten Detail zu formen und zu offenbaren. Ein Baum sagt: Meine Stärke ist Vertrauen. Ich weiß nichts von meinen Vätern, ich weiß nichts von den tausend Kindern, die jedes Jahr aus mir hervorgehen. Ich lebe das Geheimnis meines Samens bis zum Ende aus und sorge für ihn. Nichts anderes. Ich vertraue darauf, dass Gott in mir ist. Ich vertraue darauf, dass meine Arbeit heilig ist. Aus diesem Vertrauen lebe ich. Wenn wir von Schmerz getroffen sind und unser Leben nicht mehr ertragen können, dann hat ein Baum uns etwas zu sagen: Sei still! Sei still! Sieh mich an! Das Leben ist nicht leicht, das Leben ist nicht schwer. Das sind kindische Gedanken. Lass Gott in dir sprechen, und deine Gedanken werden verstummen. Du bist ängstlich, weil dein Weg dich von Mutter und Heimat wegführt. Aber jeder Schritt und jeder Tag führt dich zurück zur Mutter. Heimat ist weder hier noch dort. Heimat ist in dir, oder Heimat ist nirgends. Eine Sehnsucht nach der Ferne zerreißt mein Herz, wenn ich abends die Bäume im Wind rauschen höre. Lauscht man ihnen lange still, offenbart diese Sehnsucht ihren Kern, ihre Bedeutung. Es geht nicht so sehr darum, dem Leiden zu entfliehen, auch wenn es so scheinen mag. Es ist eine Sehnsucht nach Heimat, nach einer Erinnerung an die Mutter, nach neuen Metaphern für das Leben. Sie führt nach Hause. Jeder Weg führt heimwärts, jeder Schritt ist Geburt, jeder Jeder Schritt ist der Tod, jedes Grab die Mutter. So rauscht der Baum am Abend, wenn wir unruhig vor unseren kindlichen Gedanken stehen: Bäume haben lange Gedanken, atmen tief und ruhen, so wie sie länger leben als wir. Sie sind weiser als wir, solange wir ihnen nicht zuhören. Doch wenn wir gelernt haben, den Bäumen zuzuhören, dann erlangen die Kürze, die Schnelligkeit und die kindliche Hast unserer Gedanken eine unvergleichliche Freude. Wer gelernt hat, den Bäumen zuzuhören, will kein Baum mehr sein. Er will nichts anderes sein als das, was er ist. Das ist Heimat. Das ist Glück.

— Herman Hesse, · Bäume: Betrachtungen und Gedichte
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